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Rede Walter Thurnherr an der Delegiertenversammlung Frauenfeld

19. Februar 2020

Ich bin der Einladung, hier einige Worte an Sie zu richten, gerne nachgekommen, auch wenn sich «Thurnherr im Thurgau» eher wie ein hässlicher Stabreim oder wie eine Mikrofonprobe anhört als wie die Ansage zu einem vernünftigen Schlusswort. Die Mikrofone dieser Region werden jedoch – so denke ich zumindest – von den Thurgauern mit ihrer messerscharfen Aussprache ausreichend getestet. Unvergessen bleibt mir, wie Ständerat Philipp Stähelin in Bundesbern den hiesigen Akzent jeweils als Waffe einsetzte und seine Voten mit einem präzis angesetzten, strengen, manchmal spitzigen und immer gnadenlos ausgedehnten «Tschuuldigung» begann, was jedem politischen Gegner einen kalten Schauer über den Rücken jagte (umso mehr freut es mich, dass er heute hier ist. Philipp Stähelin war ein geschätzter Ständerat, er war ein guter Parteipräsident, und er ist ein feiner Mensch).

Der Thurgau eignet sich jedoch auch aus einem anderen Grund für eine kurze politische Standortbestimmung als nur wegen der sprachlichen Schärfe, mit der in dieser Landesgegend analysiert wird. Denn in der Ostschweiz hatten sich in der Vergangenheit dramatische Dinge zugetragen, deren Erinnerung auch den Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft verändert, sofern man nicht ganz auf den Kopf gefallen ist: Hier um Frauenfeld herum herrschte bekanntlich vor gut 200 Jahren bitterste Armut. Der junge Kanton wurde 1816 bis 1820 von einer schrecklichen Hungersnot getroffen, der Tausende zum Opfer fielen. 1816, das Jahr ohne Sommer, 222 volle Regentage und 35 weitere mit heftigem Schneefall, von denen viele in die sonst milderen Jahreszeiten fielen. Ab 1817 breiteten sich Seuchen aus. «Herr Gott! Was sah ich»? – schildert ein Augenzeuge nach dem Besuch einer betroffenen Familie, hier ganz in der Nähe – «Auf der Bank am Fenster sass eine kranke Frau mit von Wunden offenen Füssen und verkrüppelten Händen, abgemagert wie ein Totengebilde. Hinter dem Ofen sass ein zwanzigjähriges Mädchen, stumm, völlig verstandlos, taub, mit glotzigen Augen und schlaffen Händen, auf der Ofenbank ein sterbendes, mit dem Tode ringendes Kind (…). Kein einziges Hausgerät war zu sehen als der Tisch. Zwei Buben waren betteln gegangen».

Diese letzte Hungersnot in der Schweiz traf den Osten des Landes besonders hart. Sie kam völlig unerwartet, dauerte unbarmherzig lange, war in vielen Fällen tödlich, vertrieb Tausende ins Ausland und ist erst 200 Jahre her! Das grösste Elend wurde gelindert und schliesslich überwunden, aber die Armut blieb in diesem Landesteil bis lange ins zwanzigste Jahrhundert hinein bestehen.

Und was die Armut angeht, gilt das – auch wenn zum Teil aus anderen Gründen – nicht nur für diesen Landesteil! Ich meine, nehmen Sie das Bündnerland oder die Täler der Innerschweiz oder jene des Wallis, in denen man zum Teil noch in den 1940er Jahren in den selben Verhältnissen lebte, wie Jahrhunderte zuvor.

Rappelez-vous ce que vos grands-parents vous ont raconté de leur jeunesse, lorsqu’on leur offrait un oeuf pour seul cadeau. Songez aux paysans jurassiens ou fribourgeois, qui avaient beaucoup d’enfants et peu de vaches, et qui ne connaissaient ni assurance ni retraite. Ou à ces ouvriers travaillant nuit et jour pour un salaire de misère dans les nouvelles usines de la banlieue. N’oublions pas que la Suisse a connu entre 1880 et 1914 des centaines de grèves organisées pour lutter contre les injustices sociales, dont 115 dans le seul canton de Genève, 59 à La Chaux-de-Fonds, 83 à Vevey ou encore 27 à Neuchâtel. En 35 ans, l’armée est tout de même intervenue une quarantaine de fois pour briser les grèves et les manifestations, et plus d’une fois elle n’a pas hésité à tirer à balles réelles.

Ma si pensi anche al Ticino, Cantone che negli ultimi settant’anni ha vissuto probabilmente le maggiori trasformazioni in Svizzera. Nell’Ottocento era ancora afflitto da grande povertà e miseria, soprattutto a seguito delle devastanti alluvioni del 1868, la maggiore catastrofe naturale che abbia colpito da sempre la Svizzera. Molti Ticinesi furono costretti a emigrare in Italia, in Australia o in Argentina. Inoltre, si soffrì a lungo di malnutrizione e malaria.

Hierzulande war kürzlich die «State of the Union» Rede des US-amerikanischen Präsidenten in allen Medien ein Thema. Vor 140 Jahren war es umgekehrt. Da war in der «State of the Union» Adresse des amerikanischen Präsidenten von der Schweiz die Rede. Damals meinte der US Präsident, er sei froh, dass nun der Strom von Kriminellen und Verarmten aus der Schweiz nachgelassen habe. Man hätte die Situation nun wieder langsam in den Griff bekommen.

Ich sage das alles nur, weil in den letzten Jahren zuweilen der Eindruck entstanden ist, uns Schweizern sei der Wohlstand kurz nach Marignano in den Schoss gefallen; die Vorsehung, oder mindestens der ökonomische Teil davon, hätte uns auserwählt, und wir Eidgenossen wären schon genetisch besser als alle anderen. Klar, es wird uns kaum nächstens eine neue Hungersnot erreichen, aber es gibt auch kein Naturgesetz, das dieser Weltgegend hier ein immerwährendes Wirtschaftswachstum garantiert. Und Sie werden sehen, sobald der wirtschaftliche Wohlstand zurückgeht, sinken auch die politischen Hemmungen. Wenn verzichtet werden muss, wird auch hierzulande giftiger gestritten. Nach den Wahlen vom letzten Oktober wurde wiederholt und zum Teil genüsslich darauf verwiesen, wie die Polparteien verloren haben. Die Schweiz sei eben anders als Grossbritannien. Das mag sein, aber denken Sie nicht, der Trend werde anhalten, wenn einmal die Arbeitslosigkeit wieder steigen und die realen Einkommen sinken sollten. Dann dürfte im Gegenteil dem einen oder anderen, der in der Grundschule nicht zu viel aus dem Fenster geschaut hat, wieder Jeremias Gotthelf in den Sinn kommen, und ich meine jetzt nicht seine Aufforderung: «Im Nationalrat muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland» (oder ähnlich). Sondern ich denke an jene finstere Stelle im «Esau», dort wo Gotthelf den Charakterzug, der sich in solchen Zeiten offenbart, mit den Worten beschreibt: «sein Reich war sein Geldseckel, und wer ihm dieses Reich angriff, der war sein Feind, darum hasste er niemand ärger als d’Bettler und d’Regierig». Einzelne politische Kräfte dürften ihr Blickfeld vor allem auf den Geldseckel der andern erweitern, und wieder andere dürften viele Rezepte und Forderungen herumbieten, die alle sehr einfach sind und doppelt unterstrichen, aber auch komplett falsch.

Damit es nicht soweit kommt, muss man vorher etwas tun. Und zwar mit etwas längerfristigen, nachhaltigeren Ansätzen als mit jenem Vorsatz, der einmal unter einem alten Schweizer Dach zu lesen war: «Wer im Sommer Kabis klaut, hat im Winter Sauerkraut». Meines Erachtens kann die CVP unter anderem zwei Dinge tun:

Erstens, kluge Wirtschaftspolitik, das heisst insbesondere kluge Aussenwirtschaftspolitik! Zurecht können wir stolz darauf sein, dass sich die Waren-Exporte der Schweiz in den letzten zehn Jahren verdoppelt haben. Aber nur wenige wissen, dass diese Exporte praktisch konstant geblieben wären, würde man die Pharma- und Chemiebranche aus der Statistik herausnehmen. Momentan sieht bei uns noch vieles gut aus. Aber die internationalen Rahmenbedingungen werden nicht einfacher: Die Wirtschaft hat in vielen Märkten an Schwung verloren. Der weltweite Handel lässt nach: Heute wächst er so stark wie die globale Wirtschaft zunimmt, früher stieg er doppelt so steil an. Der Handelsstreit zwischen den USA und China vergiftet die Beziehungen und zwingt immer mehr Staaten und Unternehmen, sich für den einen von beiden zu entscheiden. Die WTO kriselt. Die EU schwächelt. In vielen europäischen Staaten ist die Staatsverschuldung auf Rekordhöhen geblieben. Und folgerichtig ist die Zuversicht längst verschwunden, man könne die Negativzinsen rasch wieder aufheben. Seit der Finanzkrise ist das Vertrauen in die Politik gesunken, die Unsicherheit in der Wirtschaft gewachsen, und was geblieben ist, ist der Druck auf den Schweizer Franken. Ist es unter diesen Umständen wirklich klug, von uns aus die Personenfreizügigkeit aufs Spiel zu setzen und damit den Zugang zum europäischen Markt zu gefährden?! Hier kann die CVP eine deutliche Antwort geben.

Kluge Wirtschaftspolitik heisst auch gute Bildungspolitik: Die Digitalisierung wird die Wirtschaft fundamental verändern. Es werden auch neue Materialien entdeckt, neue Batterien erfunden, neue biologische Technologien ausprobiert, neue Berufe geschaffen und neue Unternehmen gegründet werden. Wir verfügen über kein Erdöl wie Norwegen, und im Napf haben wir noch nicht genügend Gold gefunden. Der einzige Rohstoff, mit dem wir etwas anfangen können, ist der Hirnschmalz zwischen unseren Ohren. Umso wichtiger ist es, in Bildung und Forschung zu investieren, und zwar auf allen Stufen, in allen Gebieten. Nicht nur mit finanziellen Mitteln, sondern auch mit neuen pädagogischen Methoden. Und nicht nur in die Grundlagenforschung, sondern auch an den Schnittstellen zur Wirtschaft, damit junge Forschende hier in der Schweiz ihr Unternehmen gründen oder ausbauen, statt im Ausland ihr Glück versuchen zu müssen. Unsere Fraktion in Bern wird in den nächsten Monaten die BFI Botschaft prüfen und entsprechende Pflöcke einschlagen können.

Kluge Wirtschaftspolitik heisst umsichtige Regulierung, heisst gescheite Familienpolitik, heisst taugliche Sozialpolitik. Denn wenn uns die Verhältnisse und Entwicklungen der letzten zehn Jahre in Europa eines lehren, dann ist es die Erfahrung, wie unerhört wichtig eine starke Mittelschicht ist für eine funktionierende Demokratie. Hier kann und muss die CVP Antworten geben. Und wer kluge Antworten geben will, muss sie zuerst suchen. Denn ohne Weiteres sind sie nicht zu finden. Die Thurgauer, die damals Hunger litten, vermuteten, die in Amerika erfundenen und hier installierten Blitzableiter seien schuld an ihrer Misere.

Die Tessiner und Deutschschweizer, die von Malaria geplagt wurden, glaubten, der Grund liege in der schlechten Luft über ihren Sümpfen – darum nannte man sie ja «Mal Aria». Und wer glaubt, heute seien wir sehr viel klüger, soll sich die eine oder andere Arena-Sendung von SRF antun. In der Regel ist es halt etwas komplizierter, und gerade in der Wirtschaftspolitik sind die Zusammenhänge eng und vielfältig. Die Frage wird sich in Zukunft noch mehr stellen: Wie bringen wir Politik und Wirtschaft wieder näher zusammen, statt das Letztere sich darauf beschränkt, Lobbyisten nach Bern zu schicken?

Zweitens, was die CVP auch tun kann: Die CVP kann den einen oder anderen Nagel einschlagen, wenn jene Bretter und Stützen nachgeben, die unser Land zusammenhalten sollten. Nehmen Sie die Mehrsprachigkeit. Wir leben uns unbedarft und zügig auseinander in der Schweiz. Die junge Bevölkerung spricht englisch. Zum Glück. Aber englisch allein genügt nicht. Achten Sie sich einmal: Immer mehr Unternehmen mit Standorten in der Romandie und der Deutschschweiz führen ihre Telefonkonferenzen in Englisch durch. Schweizerische Veranstaltungen mit nationalem, aber ausschliesslich nationalem Publikum: Statt, dass sich jeder in seiner Sprache ausdrückt, wird englisch, oder etwas Ähnliches wie englisch, gesprochen. Im Ausland am Ferienstrand erläutern wir stolz den anderen Touristen, dass in der Schweiz eben vier Sprachen gesprochen werden. Zu Hause am Strassenrand stottern wir dann unbeholfen, wenn wir von einem Tessiner oder einem Welschen nach dem Weg zum Bahnhof gefragt werden.

Et je dois préciser que la même chose vaut pour les connaissances d’allemand de nos compatriotes francophones. Il n’y a pas longtemps, j’ai vu trois recrues sur un char, deux romands et un alémanique, qui s’entretenaient en anglais : « Give me the hammer », dit l’un. « What do you want?! », répondit l’autre. Il n’y a que les Tessinois dont on attend qu’ils parlent deux ou trois langues en plus de la leur. Pour moi, cette évolution est néfaste, et le PDC – présent dans toutes les régions du pays – pourrait et devrait y répondre de manière claire : lorsqu’en Suisse les uns ne comprennent plus les autres, ce ne sont pas seulement des compétences linguistiques qui se perdent, c’est bien plus grave que ça.

Unser Land wird zusammengehalten über den sozialen und regionalen Ausgleich, den besonderen Schutz der Minderheiten und mittels der Instrumente der direkten Demokratie. Das sind unerhörte Errungenschaften, ohne die es in unserem schweizerischen Dampfkessel schon manchmal gefährlichen Überdruck gegeben hätte. Früher warfen einzelne Schriftsteller der Schweiz vor, sie leide «an vorzeitigen Versöhnungen». Ich bin mir da heute nicht mehr so sicher. In der Schweiz gibt es zunehmend ausgesprochen Unversöhnliches, eine unter der Oberfläche der öffentlichen Wahrnehmung gewachsene Aggressivität, die sich im günstigsten Fall bei Abstimmungen und sonst in spontanen Ausbrüchen äussert und alle sprachlos zurücklässt, die vorher weggeschaut haben. Unsere direkte Demokratie stützt eben nicht nur ab auf Verfassung und Gesetz, sondern auch auf den gemeinsamen Respekt gegenüber vielen ungeschriebenen und schriftlich auch gar nicht fassbaren Regeln und Normen. Zum Beispiel, dass wir den Kompromiss suchen, statt ihn als Schwäche darzustellen. Dass wir den kleinen, sicheren Schritt dem spektakulären Misstritt vorziehen. Dass wir Beschlüsse pragmatisch umsetzen, mit Augenmass und gesundem Menschenverstand, statt sofort zu sanktionieren, wenn einmal etwas noch nicht so ist, wie es sein sollte. Dass wir regionale Lösungen zulassen, wenn es möglich ist, und nicht nur, wenn es nötig ist. Und dass wir eine andere politische Meinung respektieren, ohne gleich auf die Person zu zielen die dahintersteht. Das sind alles Dinge, die über 170 Jahre gewachsen sind, und zu denen wir Sorge tragen und für die wir uns wehren sollten. Denn bedenklich handeln nicht nur jene, die die Grenzen überqueren, Bedenklich verhalten sich auch die anderen, die die Grenzüberschreitungen zulassen, ohne den Mund aufzutun. Still dasitzen und sich für klüger halten. Oder wie Bundesrat Ritschard jeweils sagte: «Nicht jeder, der schweigt, ist ein Philosoph. Es gibt auch verschlossene Schränke, die leer sind.»

Meine Damen und Herren, es wird also in den nächsten vier Jahren viel zu tun geben für die CVP. Am besten Sie fangen heute an: Gehen Sie nach Hause, öffnen Sie Ihre Schränke, werfen Sie einen selbstkritischen Blick hinein, ordnen Sie Ihre Argumente, und dann kämpfen Sie für eine bessere Schweiz.

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