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Andreas Meier: 1. August-Rede in Untersiggenthal

1. August 2025

Eine Umfrage des Kabarettisten Simon Enzler bei rund 30 Kindern, was den am 1. August gefeiert werde, hat bemerkenswerte Antworten gegeben: „Wir feiern den 1. August – weil der Vater bräteln tut.“ oder die Gegenfrage: „Wann sollen wir denn sonst unsere Raketen ablassen?“

Liebe Anwesende, sie wissen es natürlich. Unser Nationalfeiertag wurde 1891 festgelegt. Dank einer Volksinitiative ist er seit 1993 arbeitsfrei. 83,8 % Zustimmung ist es bis heute Rekord für eine Initiative. Und warum gerade der 1. August? – Wenn alle in den Ferien sind? Nach den witzig-phantasievollen Recherchen vom Kabarettist Enzler soll am 26. Juli 1291 ein Walter Fürst eine Eilmeldung – heute würde man sagen eine E-Mail – an Werner Stauffacher geschickt haben, mit dem Vorschlag, man möge auch noch den Arnold vom Melchtal anfragen für ein Treffen am 28. Juli auf dem Rütli, zwecks Gründung der Schweiz. Der Stauffacher habe zurückgeschrieben, er könne am 28. Juli nicht, er müsse dann unbedingt noch das „Obligatorische Schiessen“, aber am 1. August hätte er laut seiner Agenda noch nichts vor. So sei es recht zufällig, dass wir am 1. August unseren Nationalfeiertag feiern.

Es freut mich zum heutigen 1. August eine hoffentlich kurz genuge Ansprach an Sie richten zu dürfen. Herzlichen Dank für die Einladung. Sie haben einen Würenlinger, einen Nachbarn, eingeladen. Eigentlich seit 25 Jahren in Klingnau wohnhaft – bin ich aber immer auch Würenlinger geblieben. Und Untersiggenthal ist mein Nachbardorf.

Untersiggenthal ist mir nah. Ich glaube Euer Dorf zu kennen. Klar kenne ich es vom Auto aus. Mit dem Auto muss ich hier durch, wenn ich nach Baden oder Richtung Osten auf die Autobahn will. Und ich muss aufpassen, öfter steht hier ein «Kasten». Und ich sehe natürlich, dass Euer Dorf wächst. Aber doch nicht so gross wie in den 1960er Jahre eine Regionalplanungsgruppe rechnete, nämlich mit 23’000 Einwohnern bis ins Jahr 2000 – samt zehn Kindergärten, vier Schulen, fünf Kirchen und Gartenbad. Warum niemand an eine Umfahrung dachte – bleibt ein Rätsel.

Untersiggenthal hat Würenlingen also als Nachbarn. Das Thema Nachbarschaft ist spannend. Man sagt Nachbarschaft verschwinde nicht – aber sie verändere sich. Für einen 1. August passt es, dass wir auf das blicken, was Nachbarschaft für uns ausmacht, auf die Nachbarn im Quartier, im Dorf, zwischen Dörfern – bis hin zur internationalen Nachbarschaft.

Eigentlich werden wir durch Nachbarschaften definiert. Zwischen DU und ICH, zwischen Innen und Aussen, zwischen Fremd und Eigen liegt – Nachbarschaft – eine Schwelle zwischen Heimat und Welt. Der Nachbar erinnert mich daran, dass mein Raum nicht abgeschlossen ist. Dass ich nicht allein bin – weder im Denken noch im Leben.

In der heutigen Zeit beobachten wir mit Sorge, wie die Pflege guter internationaler Nachbarschaften grob verletzt werden. Die USA unter Trump steht für eine Politik, die die Welt nicht als Nachbarschaft sieht, sondern als Konkurrent. Sie setzt das Eigene als absolut: America First ist die radikale Verabsolutierung vom «Innen». Grenzen sollen undurchdringlich sein – physisch, mit einer Mauer zu Mexiko, – politisch, mit Zöllen, – und kulturell, durch einen doktrinären Nationalismus.

Es ist erstaunlich, dass die Trump-Administration vergisst, dass gerade transnationale Beziehungen zum Wohlstand der USA beitragen, z.B. zwischen dem Silicon-Valley und Taiwan. Apple, Nvidia, Intel, Micron gäbe es ohne eine offene und transnationale Wirtschaft nicht.

Und Europa spürt wie fragil das Miteinander mit den Nachbarn ist. Die EU und Europa ist – im Idealfall – ein politisches Projekt von Nachbarschaft auf Augenhöhe: Staaten mit unterschiedlichen Sprachen, Interessen und Geschichten teilen Räume und Verantwortung. Doch mit dem Erstarken nationalistischer Bewegungen, wie AfD, Le Pen, Orbán, wird dieses Projekt von innen zersetzt. Der Nachbar wird nicht mehr als Partner, sondern als Schuldiger und Störfaktor erlebt. Der Nachbar ist quasi zu nah, die Grenzen sollen höher gezogen werden.

Und der Überfall auf die Ukraine schliesslich – ist nicht nur ein Angriffskrieg – es ist der Versuch, Nachbarschaft gewaltsam auszuradieren. Die Ukraine soll nicht neben Russland existieren, sondern in Russland aufgehen. Putin entzieht der Ukraine ihr „Anderssein“ – sie soll kein Nachbar sein dürfen. Der Andere darf nicht autonom existieren. Das ist die extremste Form einer Politik, die Nachbarschaft nicht aushält. Bei Putin ist zu beobachten – wo die internationale gute Nachbarschaft endet, entsteht Angst, dann wird aus dem Nachbar ein Feind, die Politik kippt dann in Isolation, dann in Aggression oder Krieg.

Die Schweiz ist sich seiner Verantwortung für eine gute internationale Nachbarschaft nach wie vor bewusst. Sie wirkt als neutraler Vermittler in internationalen Konflikten – entweder im Auftrag der UNO oder auf Bitte der Konfliktparteien. Und mit sogenannten Schutzmachtmandaten vertritt die Schweiz Länder diplomatisch, wenn direkte Beziehungen fehlen – z. B. bei abgebrochenen wie zwischen der USA und Iran, oder zwischen Georgien und Russland.

Die Schweiz stellt als Gaststaat Orte, vorab Genf, als Plattform für internationale Organisationen und Friedensverhandlungen zur Verfügung. Und als Depositar-Staat der Genfer Konventionen von 1949 hat die Schweiz eine zentrale Rolle bei deren Umsetzung und Förderung – weltweit.

Aber auch wir tun uns manchmal schwer mit der international guten Nachbarschaft. Ein möglicher Grund – wir haben Wachstumsschmerzen. Sie sind nicht zu übersehen – wir sitzen im Stau, müssen dafür im ÖV stehen und finden keine Wohnung.

Eine gültig eingereichte Volksinitiative, die sogenannte „Keine 10-Millionen-Schweiz“-Initiative will das Bevölkerungswachstum bremsen. Falls die Schweiz bis 2050 über 10 Millionen Einwohner zählt, soll unter anderem die Personenfreizügigkeit mit der EU gekündigt werden. Der Bundesrat hat entschieden, diese Volksinitiative ohne direkten oder indirekten Gegenvorschlag abzulehnen. Wie der Bundesrat lehnt auch die Staatspolitische Kommission diese Initiative ab.

Aber wir müssen anerkennen, diese Initiative greift echte Sorgen auf – Stau, Wohnungsmangel, überlastete Züge. Doch sie zielt ins Leere: Das stärkste Wachstum kommt nicht aus der EU. Zudem wird gemäss Berechnungen mit unserer Geburtenrate von 1,28 Kindern pro Frau die 10-Millionen-Grenze kaum überschreiten.

Mich erinnert dieses Thema an die Stachelschweinparabel des deutschen Philosophen Schoppenhauer. Im Winter drängen sich diese Stacheltiere eng aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Doch je näher sie zusammenrücken, desto schmerzhafter spüren sie die Stacheln der anderen. Um dem Stechen zu entgehen, entfernen sie sich voneinander. Aber dann frieren sie wieder – hin und her, bis sie schliesslich einen mittleren Abstand finden, für gegenseitige Wärme ohne sich zu verletzen. Wir sind keine Stachelschweine – aber wir brauchen einander und haben doch gleichzeitig alle Eigenheiten, Grenzen. Solche «Stacheln» können weh tun, oft checkt man aber nur, andere tun uns weh.

Schoppenhauer glaubte, dass die Tiere, die über genug Eigenwärme verfügen, die richtige Distanz zu den anderen halten können. Nur wenn wir unsere eigene Wärme spüren, können wir anderen nahekommen. Bezogen auf unser Land heisst das – Nur mit einer starken Schweizer Wirtschaft können wir Infrastruktur, Sozialleistungen, Bildung oder auch die Sicherheit, z.B. die Landesverteidigung, garantieren – mit genügend volkswirtschaftlicher Eigenwärme bleibt dann auch etwas für die Unterstützung der Nachbarn übrig, und für die Natur und für Menschen auf der Welt, die es ohne Hilfe nicht schaffen.

Wie regulieren wir Bürgerinnen und Bürger das zwischenmenschliche Klima – im Land, in der Politik, und gegenüber unseren Nachbarn? Ich meine: Es braucht drei Dinge. Erstens: Selbstkenntnis. Unsere Grenzen und Interessen müssen wir kennen – persönlich und gesellschaftlich. Zweitens: Empathie. Auch wer anders denkt oder fühlt, verdient Respekt. Drittens: Kommunikation. Klar sagen, was wir brauchen. Und zuhören, was anderen fehlt. Das gilt in Familien wie im Parlament. In der Gemeinde wie in der internationalen Zusammenarbeit. Demokratie lebt vom Gespräch. Respekt entsteht im Dialog. Ein gutes Klima – innen wie außen – ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist unsere Verantwortung.

Die Gedanken zur Nachbarschaft führen mich zum Begriff: Heimat – ein Wort für viel Schönes, für Erinnerung und für Vertrautheit. Wir sind durch unsere Heimat privilegiert. Aber sie ist nicht Besitz – sondern ein Gefühl und ein Versprechen. Für viele Mensch dieser Welt bleibt Heimat eine Hoffnung auf Geborgenheit, Sicherheit oder Anerkennung und bleibt oft unerreicht – besonders in Zeiten, voller Entwurzelung, Exil oder Entfremdung.
Wahre Heimat, sagt der Philosoph Adorno, entsteht nicht aus Nostalgie – sondern aus Verantwortung füreinander. Vielleicht ist das heute unsere wichtigste Aufgabe: Nicht nur Räume zu schaffen, sondern echte Heimat zu ermöglichen.

Dieses Verständnis von Heimat – als Verantwortung füreinander – ist kein theoretisches Ideal. Es zeigt sich ganz konkret. Auch in der Schweiz, gerade in jüngster Zeit. In der Art, wie wir miteinander umgehen. Wie wir Erfolge gemeinsam möglich machen – sei es beim Eurovision Song Contest, bei der Frauen-EM oder bei den Friedensgesprächen auf dem Bürgenstock. Sie alle waren nur möglich, weil das Fundament stimmt: Zusammenarbeit, Respekt und Gemeinschaftssinn.

Zurück also nach Untersiggenthal und Würenlingen – wo das Miteinander manchmal ganz praktisch wird. Zum Beispiel heute Abend: Vielleicht kommen Würenlinger vorbei, die es richtig krachen lassen wollen. In Eurem Nachbardorf geht das nämlich nicht mehr – da ist Feuerwerk inzwischen verboten. Sogar das Bundesparlament beschäftigt sich mit diesem Schallereignis. Und nächstes Jahr stimmt vielleicht die ganze Schweiz über eine diesbezügliche Volksinitiative ab.

Ich komme zum Schluss: Der 1. August ist für einige vielleicht Feuerwerk, sicher aber die Schweizer Fahne. Es gibt dazu eine Anekdote. Den Erfindern der Fahne war schnell klar, dass sie etwas Positives, ein Plus oder Kreuz haben soll. Die Farbe aber gab eine längere Diskussion. Plötzlich rief dann jemand: Es gibt Apéro, es hat – «Roten und Weissen!» Rot und Weiss sind auch die Farben dieser Rebbaugemeinde. Der 25er könnte ein guter Jahrgang werden. Zum Wohl, liebe Untersiggenthalerinnen und Untersiggenthaler – und einen frohen 1. August!

Redner

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