1. Augustrede Andreas Meier in Oftringen
1. August 2024
Herzlichen Dank für die Einladung. Auf eine Frage des Kabarettisten Simon Enzler bei ca. 30 Kindern, was am 1. August gefeiert werde, antworteten diese: Wir feiern den 1. August – weil der Vater bräteln tut, oder die Gegenfrage: „Wann sollen wir denn sonst unsere Raketen ablassen?“
Liebe Anwesende, was wäre Ihre Antwort auf diese Frage?
Eine mögliche Antwort wäre – wir haben den 1. August, damit «1.August-Redner» landesweit einmal pro Jahr so richtig am „Stägegländer“ der Schweizer-Geschichte auf und ab erzählen dürfen. 1291, 1370, 1393, 1481, etc. etc. –
Die Rede jetzt dauert etwa 15 Minuten, so wäre die ganze Geschichte dann deutlich zu lang und sowieso ist laut Zofinger Tagblatt das Parkieren hier nicht gratis, nicht vor dem Lidl und wohl auch nicht während einer 1.August-Feier.
Aber der erste Bundesbrief von 1291 ist auf Anfang August datiert, sorgfältig, in lateinisch, auf Pergament geschrieben und mit den drei Sigeln von Uri, Schwyz und Unterwalden. Das Siegel von Schwyz ist übrigens irgendwann abgefallen.
Die Terminfindung für das Treffen der drei Innerschweizer muss noch recht aufwendig gewesen sein. Heute hätte ich es einfacher, ich würde eine Doodle-Umfrage aufsetzen. Aber eben, es waren andere Zeiten und die Menschen hatten damals noch keine so randvollen Terminkalender. Damals war noch nicht einmal das «Obligatorische» obligatorisch.
Das 300m Schiessen jetzt zu erwähnen, ist vielleicht etwas heikel. Die Schützengesellschaft Oftringen habe sich laut dem Zofinger-Tagblatt am Jurassier Kantonalschützenfest nicht ganz immer ins Schwarze getroffen.
Doch nun – Die Menschen in der Innerschweiz begannen, sich zu organisieren. Sie erhoben Anspruch auf eine eigene Kultur und Besitz. Wenn man mal etwas hat, will man das nicht mehr verlieren.
Die alten Stände, hier in diesem Kantonsteil die Berner Aristokratie, erlangten einen beachtlichen Reichtum. Ihre Macht und ihren Wohlstand mussten sie nun mehr und mehr auch nach innen verteidigen.
Ich picke dazu eine Geschichte heraus, die ich eindrücklich finde. Sie in Oftringen kennen sie diese wahrscheinlich. Oftringen liegt ja nahe bei der Festung Aarburg. Es ist die Geschichte von Jacques-Barthélemy Micheli-Du Crest, dem letzten Staatsgefangen der Schweiz, fast exakt 100 Jahre vor der Bundesverfassung. Es ist die Geschichte vom Genfer Micheli-Du Crest, der den Menschen im Grund die Idee der Demokratie erzählen wollte. Das sah die damalige Obrigkeit gar nicht gern und verurteilte ihn 1749 zu lebenslanger Haft in der Festung Aarburg.
Es ist eine erstaunliche und heute befremdliche Geschichte, diese Biografie des 1690 auf Schloss Crest bei Genf geborenen Stammhalters, einer der tonangebenden Genfer Familien. Dem jungen Micheli schien eine glänzende Laufbahn vorgezeichnet. Er trat in den Militärdienst ein, wurde Mitglied des Genfer Grossen Rates. Schon früh interessierte er sich für Physik, Kartografie und Festungsbau. So setzte er sich intensiv mit den Genfer Festungsbauprojekten auseinander und kritisierte sie. Dabei beschränkte er sich nicht auf fachliche Einwände, sondern forderte in einer Streitschrift auch mehr Mitsprache des Bürgertums. Damit wurde er zum politischen Dissidenten und flüchtete nach Paris.
Dort widmete sich Micheli der Entwicklung eines Thermometers. Er war Zeitgenosse von REAUMUR, von CELSIUS und FAHRENHEIT. Auch im selbstgewählten Exil konnte es Micheli allerdings nicht lassen, immer wieder seine politischen Ideen in Umlauf zu bringen. Schliesslich wurde er nach Bern ausgeliefert und 1749 als Staatsgefangener zu ewiger Haft auf der Festung Aarburg verurteilt. Seine verschiedenen physikalischen Experimente liess man ihn weiter gewähren. Seine Temperatur-Eichkonstante nannte er das «Tempéré». Es entsprach den sehr konstanten 14,5° Celsisus des Verlieses auf der Aarburg. Das feuchte Zimmer ruinierte schliesslich seine Gesundheit. Für die Kosten seiner Haft bis zu seinem Tod 1766 musste er, respektive seine Familie, auch noch selber aufkommen.
Micheli war nicht der erste und nicht der einzige, der für die Idee der Demokratie kämpfte. Die Forderung der Bürger nach mehr Transparenz und Mitsprache war in ganz Europa unaufhaltsam. Auch die Schweiz wurde von der Französischen Revolution überrannt. Speziell im heutigen Aargau und Waadtland jubelte die Jugend der Revolution zu.
Bis hin zur Bundesverfassung von 1848 waren die Umwälzungen für unser Land riesig. Aber unsere Demokratie hätte nicht dieses typische zentrale Element der Schweizer Staatsordnung, wäre vor 150 Jahren also 1874 die Verfassung nicht totalrevidiert worden.
«Alles für das Volk, alles durch das Volk» lautete das Motto im Volk, zuerst in den Kantonen und dann auch in Bern. Der Bundesrat war anfänglich der Meinung, der Schweizer Bevölkerung fehle es doch an nichts. Jeder Bürger besitze freies Wahlrecht und Vereinsrecht, unbedingte Pressefreiheit und Petitionsbefugnis – «und obendrein habe jeder Bürger sein Gewehr in seinem Hause». «So ausgerüstet, mit diesen geistigen und materiellen Waffen umgeben, sollte es jedem Volke ein Leichtes sein, die Freiheit des Landes aufrecht erhalten zu können.»
Der Bundesrat und die Parlamente verstanden sich als Elite: legitim gewählt und dazu berufen, mit bestem Wissen und Gewissen über die Angelegenheiten des Volkes zu entscheiden
So hiess es damals im Parlament: «dem gemeinen Manne, welcher täglich sein Brot sauer verdienen müsse, könne die Entscheidung über schwierige Rechtsmaterien nicht zugemutet werden». Zudem gehe es nicht an, dass Bürger «aus dem Wirtshaus zur Abstimmungsurne trete».
Eine erste Abstimmung 1872 verpasste die Zustimmung zur Totalrevision nur sehr knapp. Es fehlten gut 5000 Stimmen. Praktisch eine Pattsituation. So wurde eine fast gleiche Volksabstimmung zwei Jahre später wiederholt. Die NZZ schrieb damals – «die Revision ist tot, es lebe die Revision.»
Es muss hitzig zu und her gegangen sein. Man schrieb von ärgsten Ausschreitungen, bis schliesslich die Totalrevision im zweiten Anlauf, also vor 150 Jahren, deutlich angenommen wurde.
Erst seither verfügen wir über so umfassende direktdemokratische Rechte wie in keinem anderen Land. Letztlich war es unser damaliger Aargauer Bundesrat Emil Welti, der massgeblich zur Totalrevision beitrug. Offenbar war es für ihn kein leichter Prozess und er musste Vieles einstecken, wie er in seinen Memoiren schreibt: «Der Kampf war ein scharfer» und am Schluss: «…es kommt vielleicht einmal die Zeit, wo man mir Dank dafür weiss.»
Der aus heutiger Sicht wohl wichtigste Teil der Totalrevision ist die Einführung des Referendums. Wenn das Volk mit einem Entscheid der Parlamente nicht einverstanden ist, kann im Rahmen eines Referendums mit 50’000 Unterschriften eine Volksabstimmung erzwungen werden.
Jüngstes Beispiel für ein Referendum betraf das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung. Sie erinnern sich, wir haben am 9. Juni darüber abgestimmt. Als weitere Grundpfeiler der direkten Demokratie kennen wir die Initiative – und die Vernehmlassung. Gerade die Vernehmlassungen sind für unsere direkte Demokratie sehr wichtig und werden häufig unterschätzt.
Allerdings hat der Bundesrat hat bei der Berücksichtig von Antworten auf Vernehmlassungen manchmal eine etwas eigene Arithmetik. Auf seine Frage nach dem Kreditrahmen für Forschung, Bildung und Innovation trafen 110 Antworten ein. 104 Antwortende fanden der Kredit sei zu tief, 3 fanden er sei gerade richtig und 3 fanden er sei zu hoch. Für den Bundesrat war klar, wenn drei finden er sei zu hoch, dann kann man kürzen.
Mit Referendum, Initiative und Vernehmlassung ist unsere Demokratie zwar aufwändig, macht uns gemäss den Untersuchungen des Ökonomen und Glücksforscher Bruno Frey aber glücklicher.
Die Volksrechte der direkten Demokratie geben uns Bürgerinnen und Bürgern Macht. Dies verlangt Moral und Verantwortung. Die Schweizerinnen und Schweizer bekennen sich zu sozialer Gerechtigkeit und Unterstützung der Bedürftigen, zu Umweltschutz und Nachhaltigkeit, zu Menschenrechten und humanitärem Engagement, für Bildung und Wissenschaft. Mit unserer direkten Demokratie pflegen wir eine Ethik und «gänd eusem Land Sorg».
Aber hüten wir uns vor Mystifizierungen, wie zum Beispiel beim Begriff der «Neutralität». In der Verfassung der Schweiz ist die Neutralität tatsächlich bis heute nicht explizit festgeschrieben. Sie betrifft in erster Linie die Aussenpolitik. Man kann niemals einfach sagen, ‚wir sind neutral und fertig‘, per se heisst das eigentlich nichts. Die Neutralität hat erst einen Wert, wenn sie international und im positiven Sinne, anerkannt wird.
Die „Nischenstrategie“ der Schweiz als neutraler Staat kann auf Dauer – insbesondere bei unseren Partnerländern – nur funktionieren, wenn wir als ein kooperativer moderner Staat gesehen werden, der sein Verhältnis zu Europa klärt und einen angemessenen Beitrag an die Friedensförderung leistet. Die vom Bundesrat ausgerichtete Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock ist ein Beitrag und hat hoffentlich eine friedensfördernde und positive Dynamik unterstützt.
Und die neutrale Schweiz darf ihre institutionellen guten Dienste stolz sein: die drei Genfer Institutionen; das Zentrum für Sicherheitspolitik, das Zentrum für humanitäre Minenräumung und das Zentrum für Governance und auch unseren Einsatz für die UNO-Mission KFOR im Kosovo.
So manchen Spagat machen wir nicht so schlecht. Wir sind souverän und dabei freundlich zu den gerechten Menschen dieser Welt.
Unsere eigene Lebenserfahrung lehrt uns, dass nur wer mithilft und mitträgt letztlich auch Achtung und Freundschaft erfährt.
Unsere Schweizer Fahne ist übrigens etwa so alt wie unsere Verfassung. Ihren Erfindern war schnell klar, dass wir uns positiv aus allen Ländern abheben wollen. Unsere Fahne soll ein Plus oder Kreuz haben. Die Farbwahl gab aber eine längere Diskussion. Der Legende nach habe, bei der Beratung über die Farbe, plötzlich jemand gerufen: Es gibt Apéro, es hat – «Roten und Weissen!» So war dann entschieden – wir haben ein weisses Kreuz auf rotem Grund.
Jetzt hoffe ich, dass die Rede nicht zu lange war. Danke für das Zuhören, danke für Ihren Beitrag für eine verantwortungsvolle Gesellschaft.