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1. August-Rede Edith Saner in Gebenstorf

1. August 2024

Ich freue mich sehr, hier in Gebenstorf zu sein und bedanke mich herzlich für die Einladung.
Ich freue mich unter anderem, da mich und meine Wohngemeinde Birmenstorf mit der Gemeinde Gebenstorf einiges verbindet:
• Beide Gemeinden liegen an der Reuss. Am 164 km langen Fluss, der in der Innerschweiz, im Gotthardmassiv entspringt. Beide Gemeinden haben dank dieses Flusses eine direkte Verbindung in unsere Urschweiz.
• Und wo es Flüsse hat, gibt es häufig auch Kies. Ein wertvolles Produkt, das in beiden Gemeinden zu finden ist und genutzt wird.
• Die beiden Gemeinden sind durch die reformierten Kirchen seit langer Zeit eng verbunden. Und auch die katholische Pfarrei Birmenstorf schreibt auf ihrer Website, dass sie ein äusserst gutes Verhältnis mit der reformierten Kirchgemeinde Birmenstorf-Gebenstorf-Turgi pflegt.
• Als ehemalige Frau Gemeindeammann von Birmenstorf durfte ich die Behörten von Gebenstorf kennen und schätzen lernen. Die beiden Gemeinden pflegen einen sehr engen, problemlosen Kontakt zueinander.
• Und auch mein Mann und mich verbindet die Nähe zu Gebenstorf. Wenn wir spazieren, biken oder joggen, wissen wir oft nicht, ob wir noch auf Birmenstorfer oder Gebenstorfer Boden sind. Das Naherholungsgebiet ist eindeutig grenzüberschreitend.

Das sind einige Punkte, welche mich persönlich oder meine Wohngemeinde Birmenstorf mit Ihnen und der Gemeinde Gebenstorf verbindet.
Wichtig ist aber auch zu erwähnen, was mich an Ihrer Gemeinde fasziniert und diese bewundernswert macht:
• Gebenstorf liegt am Wasserschloss der Schweiz, wo drei der fünf grössten Flüsse der Schweiz, – Aare, Limmat, Reuss, – zusammenkommen. Eine unglaublich beeindruckende Flusslandschaft, die wir hier in dieser Gemeinde erleben. Eine Landschaft, die vernetzt, verbindet, – eine Landschaft, die nicht nur Lebensort für Menschen ist, – sondern für die unterschiedlichsten Lebewesen im und um das Wasser. Eine Landschaft, über dessen Symbolik und Wert es sich lohnen würde, eine eigene Rede zu schreiben.
• Im Weiteren fasziniert mich das Gebenstorfer Horn. Ein Aussichtspunkt von nationaler Bedeutung mit dem einzigarten Blick auf die Tal- und Flusslandschaft, – das Wasserschloss. Bei gutem Wetter ist die Sicht über die Schweizergrenze hinaus in Richtung Schwarzwald möglich. Laut geschichtlicher Überlieferung hat sogar Eugénie, die Frau von Napoleon dem III, diese Sicht als die grossartigste der Welt gepriesen. Heute wäre Eugénie eine Influenzerin und Gebenstorf von neugierigen Touristinnen und Touristen überschwemmt. Ich habe in der Einladung zur Bundesfeier gelesen, dass auch Sie heute schon die Möglichkeit hatten, mit Fabian und Jacqueline Keller zu diesem Aussichtspunkt zu wandern. Ich hoffe, dass dies einige geniessen konnten.
• Und wussten Sie, dass Gebenstorf fast 3mal mehr Einwohnerinnen und Einwohner pro km2 hat, als Birmenstorf? Das war auch für mich eine neue Erkenntnis.

Weshalb erzähle ich Ihnen dies alles? Weil mir am Nationalfeiertag immer wieder bewusst wird, wie uns Gemeinsamkeiten verbinden. Wie wichtig es aber auch ist, Spezielles oder Aussergewöhnliches von anderen zu kennen, -dies zu respektieren, zu schätzen und zu bewundern.

Viele Besonderheiten können wir in der Schweiz zu Fuss entdecken. Dazu motiviert uns das diesjährige 1. August Abzeichen.
Seit 1923 verkauft die Stiftung Pro Patria, die sich für die kulturelle Vielfalt der Schweiz einsetzt, das 1. August-Abzeichen. Jedes Jahr mit einer anderen Symbolik. Dieses Abzeichen war und ist immer ein Symbol, welches das Feiern des Nationalfeiertages mit einem kulturell-sozialen Zweck verbindet. 2024 ehrt das Abzeichen den Volkssport Wandern und zeigt die Wanderzeit vom Sitz der Pro Patria in Zürich zu vier verschiedenen Regionen: die Zentralschweiz mit dem Rütli, der Süden mit San Gottardo, der Westen mit Gruyères und der Osten mit Val Müstair. Orte, die sehr unterschiedlich sind und uns sogar die vier Landessprachen näherbringen.

Von Rachel Wolchin, einer amerikanischen Autorin, ist folgendes Zitat:
«Wenn wir bestimmt wären, an einem Ort zu bleiben, hätten wir Wurzeln statt Füsse.»

Vielleicht lassen Sie sich durch die vorgeschlagenen Wanderschätze der Pro Patria animieren und nehmen noch in diesem Jahr eine dieser Routen unter die Füsse. Wandern gehört zum Kulturgut der Schweiz. Es gibt wohl kaum ein Land, das so viele, top ausgeschilderte Wanderwege hat. Wandern ist nicht nur gesund, es öffnet uns in vieler Hinsicht Augen und Ohren. Je nach Eindruck werden wir sogar demütig, zufrieden, aber auch je nach Ausblick euphorisch. Oft höre ich mich selbst und andere sagen: «Mein Gott, ist unsere Schweiz in ihrer Vielfalt schön!»

Wandern, herumwandern, durchwandern, loswandern, weiterwandern, einwandern, auswandern…

Auswandern heisst in der lateinischen Sprache Migratio. Wandern bzw. auswandern heisst Migration.

Sind Sie sich bewusst, wie viele Schweizerinnen und Schweizer im 19. und anfangs 20. Jahrhundert ausgewandert bzw. migriert sind? Der grösste Teil nicht freiwillig.
Bevölkerungswachstum, fehlende Verdienstmöglichkeiten, Hungersnöte und Wirtschaftskrisen zwangen viele Schweizerinnen und Schweizer zur Emigration. Es gab vier Hauptwellen der Auswanderung: 1816-1817, 1845-1855, 1880-1885 und anfangs 20. Jahrhunderts. Laut Statistik waren es über 300`000 Menschen, die unser Land verlassen haben, zum Teil verlassen mussten. All diese Menschen hatten keinen Wegweiser. Sie wussten nicht, wo ihre Reise enden wird. Massenauswanderungen vor allem von armen Familien gab es zu dieser Zeit im Aargau und in der ganzen Schweiz. Unser Land befand sich um die Mitte des 19. Jh. im Umbruch: Zuwachs der Bevölkerung, Veränderungen in der Landwirtschaft und der Übergang von der Heimindustrie zur mechanisierten Fabrikindustrie führten zur Verarmung breiter Teile der Bevölkerung. Betroffen waren vor allem die ländlichen Unterschichten, die mit der Heimarbeit knapp überlebt hatten. Viele dieser von Armut betroffenen Schweizerinnen und Schweizer wanderten nach Übersee aus, die meisten davon in die USA. Für manche Gemeinden, die sich an den Reisekosten der Emigrantinnen und Emigranten beteiligten, war diese Auswanderung eine Gelegenheit, unterstützungsbedürftige Bürgerinnen und Bürger loszuwerden. Die einmalige Finanzierung der Reisekosten war billiger als eine mögliche jahrzehntelange Unterstützung.
Die Emigrantinnen und Emigranten waren laut Berichten nicht überall willkommen. Sie wurden bei ihrer Ankunft oft abgewiesen oder mussten auf dem Seeweg weiterreisen. Zum Teil gelang dies nur mit Bezahlung von versierten Seeleuten. Heute würden wir von «Schleppern» sprechen.

Wenn ich solche Geschichten lese, wird mir bewusst, wie sich Ereignisse wiederholen. Heute ist es so, dass wir uns in Europa, in der Schweiz, nicht mit dem Umgang der Auswanderer beschäftigen müssen, sondern mit der Herausforderung der Einwanderung. Uns geht es zur Zeit so gut, dass von unserer Bevölkerung niemand auswandern muss.

Uns geht es so gut, weil Menschen vor Jahrzehnten ausgewandert und später Menschen wieder zugewandert sind, um die neu florierende Wirtschaft zu unterstützen und zu stärken. Wir wissen alle, dass wir ohne die zugewanderten Fachkräfte nicht den Wohlstand hätten, den wir heute haben.

Die Gründe, weshalb in der heutigen Zeit Menschen in die Schweiz einwandern, sind vergleichbar mit denen aus dem 19. Jh.: Armut, Bevölkerungswachstum, Wirtschaftskrisen, – und ein wichtiger zusätzlicher Faktor ist, dass durch unsere social Medien für alle weltweit sichtbar ist, wo anscheinend Milch und Honig fliesst. Bei vielen Menschen wird die Sehnsucht geweckt, in ein Land zu reisen, zu emigrieren, wo man auf ein besseres Leben hoffen kann. Dies ist nachvollziehbar und verständlich.

Nichts desto trotz sind wir gefordert, uns mit der aktuellen Einwanderung und deren komplexen Folgen auseinanderzusetzen.
Wir müssen uns folgende Fragen stellen:
• Welches Zusammenleben wollen wir? Sind die Menschen, die in unser Land einwandern bereit, sich mit unserer Kultur auseinanderzusetzen, diese zu respektieren und sich nach Möglichkeit anzupassen?
• Bei welchen Themen sind wir tolerant, – und bei welchen setzen wir klare Grenzen (wie z.B. Verhüllung von Frauen, Heirat mit Minderjährigen, undemokratisches Verhalten etc.)? Themen, die nicht mit unseren Werten in der Schweiz vereinbar sind.
• Was braucht es, damit wir Menschen aus unterschiedlichen Ländern integrieren können?
• Was braucht es, damit wir Migrantinnen und Migranten gegenüber nicht mit Vorurteilen begegnen?
• Wie gelingt es uns, einzusehen, dass Aus- und Einwanderung zur Geschichte der Schweiz gehören und wir uns dieser Tatsache stellen müssen? Dazu gehört auch zwingend, dass wir für unsere Wertvorstellungen einstehen und unsere liberale freie Schweiz gegenüber allen möglichen Anfeindungen verteidigen.

Ich bin mir bewusst, dies sind anspruchsvolle Aufgaben. Wir müssen uns aber diesen Herausforderungen stellen und gemeinsam an Lösungen arbeiten. Ich bin überzeugt, dass wir dies mit unseren demokratischen Grundwerten schaffen. Auch wenn uns ab und zu die nötigen Wegweiser fehlen.

«An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser» dies ist ein Zitat von Charlie Chaplin.

In Juli dieses Jahres hat sich die Auslandschweizerorganisation zum hundertsten Mal am jährlichen Kongress getroffen. In der Zwischenzeit ein beliebter Treffpunkt der sogenannten fünften Schweiz. Jedes Jahr treffen sich bis zu 400 Teilnehmende mit Landsleuten aus aller Welt. Sie hören spannende Reden, informieren sich über Aktuelles in der Schweiz und sprechen über ihre eigenen Erfahrungen in Bezug auf Auswanderung.
Vielleicht könnten uns diese Erfahrungen zeigen, was wir bei der Migration aus unterschiedlichen Ländern berücksichtigen sollten.

Wandern, einwandern, auswandern, zuwandern….
Das 1. August-Abzeichen von diesem Jahr ist ein Wegweiser zu diesen Themen.
Möginger Thomas, Psychologe, sagte einmal: «Nur wer Grenzen überschreitet, schafft neue Verbindungen.».

Das stimmt. Neue Verbindungen können aber nur entstehen, wenn über der Grenze auch Verbindungen ermöglicht werden. Wenn Menschen da sind, die anderen, die fremd sind, eine Chance geben, – sie in unsere Gewohnheiten einführen, sich auch überraschen lassen, was die fremde Person einbringt und mitbringt.

Stellen Sie sich z.B. vor, wie unsere Schweizer Küche in der Zwischenzeit arm wäre ohne all die Spezialitäten anderer Länder, die uns Einwanderer mitgebracht haben: Spaghetti, indische Reisgerichte, Gratins aus Frankreich, Kebab aus der Türkei, Knödl aus Österreich und vieles mehr.

So wie einzelne Bäche und kleinere Flüsse sich in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit zu einem gemeinsamen Fluss finden und formen, – sogar zu einem Wasserschloss werden, – können sich auch verschiedenste Kulturen zu etwas Neuem entwickeln. Das braucht Vertrauen, Offenheit, Neugier, Erfahrung, und Zeit. Und kritische Situationen meistert man oft besser mit Weitsicht und etwas Abstand zum Thema. Dann sollten wir vielleicht zum Gebenstorfer Horn wandern und so aus der Ferne mit dem Ausblick zum Weitblick kommen.

Ich wünsche uns zum diesjährigen 1. August folgendes:
• Wegweiser bei anspruchsvollen Themen
• Die Erkenntnis, dass Ein- und Auswanderung zur Menschheitsgeschichte bzw. zur Schweiz gehört
• ein faires Verhalten im Umgang mit Menschen, die in der Not sind, auf unsere Hilfe angewiesen sind und diese annehmen.
• Ich wünsche uns, dass wir stolz sind auf unsere demokratischen Werte, die unser Zusammenleben prägen. Dass wir auch den Mut haben, wenn nötig Grenzen zu setzen und «nein» zu sagen.

Zum Schluss danke ich Ihnen allen, dass Sie die Wertvorstellungen unserer Heimat mittragen. Ich danke Ihnen, dass Sie zu den Schönheiten von Gebenstorf Sorge tragen. Geniessen Sie im August das Dorffest. Solche Feste sind wichtig für das Zusammenleben, das gegenseitige Kennenlernen und sind willkommene Wegweiser zu unterschiedlichen Themen.

Ich danke Ihnen für das Zuhören und Ihre Aufmerksamkeit.

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